5. Juni 2010

Wir leben in einer Welt, in der jeder individuell sein möchte und dadurch seine Individualität verliert.

Jede Autofahrt von Zeulenroda nach Stuttgart an einem Sonntagabend ist ein Erlebnis. Vor fast 3 Wochen am 16.5. war es wieder soweit: Hinter mir der blutrote Sonnenuntergang, vor mir der Mond und die Venus in dunkelblauen Himmelsschwaden. Eine Sichel und ein Stern, woher kenne ich das bloß?

Die beste Zeit an diesen Fahrten ist immer die Stunde im Großraum Nürnberg, wenn mein iTrip auf 87.5 dem Klassiksender auf 87.6 kapituliert. Denn dann sucht man sich interessante Radiosender um die Zeit zwischen Pegnitz und Ansbach zu überbrücken. Diesemal blieb ich um kurz nach 9 auf 60.0 bzw. 102.5 hängen - Bayern 2. Dort kommt zu der Zeit die Wiederholung radioFeature am Samstag, einer Spielwiese für Autoren, die das Radio lebendig machen sollen.

Thema der Sendung: "Ich" ist nicht zu fassen - Über Spielformen der Identität von Christine Hamel.

Ich hatte es leider nicht von ganz vorne an, deshalb war es schwer reinzukommen. Die Sprecherin alternierte mit Interviews über den Begriff "ICH".

Was ist "ich"? Wofür steht der Begriff? Welches Konzept verbirgt sich dahinter? Schon allein, wenn man sich diese Fragen stellt, stellt man sein eigenes Ich in Frage.

Der Mensch ist angeblich das einzige Wesen auf diesem Staubball mit einem Bewusstsein für sich selbst. Er allein kann seine Existenz in Frage stellen und sich fragen, warum man hier bloggt. Kam es durch die Evolution? Steht das allen Lebewesen irgendwann bevor? Gibt es vielleicht schon welche und sie können es uns bloß nicht sagen?

In der Sendung wird gesagt, dass die Freiheit des Willens eine Illusion sind. "Denken und Gefühle - Alles Moleküle." Ich greife den Punkt hier auf. Wenn der Leser hier glaubt, er würde gerade diesen Blog lesen, dann ist das eine fundamentale Selbsttäuschung, denn ihn als ein Selbst gibt es gar nicht. Auch wenn wir ein Ich in uns fühlen, ist es alles nur Biologie. Es gibt keine Seele, die weiterzieht, wenn der Körper stirbt. Nur ein Gehirn, "eine riesige Schaltzentrale, in der Nervenzellen zusammenwirken und das Erlebnis erzeugen, dass wir uns als Dekender, Fühlender und Handelnder wahrnehmen." - Als ich.

Auch die Fantastischen Vier sangen "Ichisichisichisich", doch darin ging es eher ums egoistisch und egozentrisch sein, nicht um die Definition des Ich. Das kann schon nach den alten Philosophen Kant und Hume nicht als eigene Einheit unabhängig vom Gehirn existieren. Das Ich ist ein "Effekt des Gehirns", nicht mehr. Ganz pragmatisch.

Doch woher kommen Träume? Wandert das Ich nicht weg vom Körper? Außerkörperliche Erfahrungen nur Einbildung. Ich denke nicht und verwende diesen Begriff schon wieder als wüsste ich, was er bedeutet. Man kann nicht ohne Ich und nicht ohne ich.

Ganz allein musste ich auf den dunkelsten und einsamsten Parkplatz der A6 fahren und meine Gedanken sammeln. Jedes Mal wenn ich zu den Sternen schaue und mich frage, wer ich bin. Wo ich in dieser Welt stehe und ob jemand herab sieht und mich beobachtet?

Meine eigene Illusion? Vielleicht, denn wir müssen uns immer selber definieren, die Autorin spricht von Archivieren. Meine Musik, meine Fotos, meine Bücher, meine Filme... das sind wir. So setzen wir unser eigenes Bild zusammen, über Merkmale die andere auch haben können. Wo bleibt da Individualität? Anders sein will jeder, aber wenn alle anders sind, dann sind alle gleich. Vorstellungen, Träume, Wünsche - selbst das lassen wir uns von Anderen vorgeben. "Oh, das gefällt mir, das will ich auch."

Ich, ich, ich... Ich kann diesen Beitrag nicht mal schreiben ohne dieses Wort so oft zu schreiben. Ist das bei euch auch so? Wenn man ein Wort ganz oft hintereinander sagt, fragt man sich, ob dieses Wort überhaupt ein richtiges Wort ist. Man sucht nach der Bedeutung und es fängt an komisch zu klingen. Ich, Ich, Ich, ich, Ich, ich, Ich, ich, ich...

Wer bin ich? Diese Frage stelle ich mir oft. Viel öfter frage ich mich, wer das Ich von mir ist, dass die Anderen sehen. Was macht mich zu dem, der ich in den Augen anderer Menschen bin? Was macht mich hassbar, mögbar, liebbar? Meine Sammlung von Musik/Filmen/Fotos? Die Moleküle in meinem Kopf? Meine Handlungen, die aus gefühltem freien Wille tue?

Wenn die Antwort so leicht wäre, dann würde es wohl nicht mehr so sehr lohnen zu leben. Denn das sind die Antworten, die das Leben lebenswert machen. Rauszufinden wer man ist. Dieses Feature hat mich wohl nicht weitergebracht, aber es war mal wieder ein Denkanstoß. Das war cool, das war Gänsehautfeeling.

Auf der Homepage von Bayern2 dann nur die Inhaltsangabe:
"Ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu" - so lässt Ödön von Horváth Baronin Ada von Stetten in seinem Roman "Zur schönen Aussicht" seufzen. Längst wissen wir: Das bin ich und das bin ich auch und das auch. Ich bin viele. Gefühle, Hirnströme, Hormone, der Blick in den Spiegel und in die Augen anderer - die Bausteine einer Biografie.

Im "Second Life" lässt sich dieses Ich dann wunderbar aufpolstern: optimal digital. Doch auch online ist der Mensch vor allem auf der Suche nach sich Selbst. Unablässig archivieren wir uns: Ich mit all meinen Fotos. Ich mit all meinen Filmen. Ich mit all meinen Mails und SMS. Ich mit all meinen Büchern. Ich mit all meinen Songs. Ich mit meiner DNS. Ich mit all meinen Kontoauszügen und Überweisungen. iPod und iPad erlauben, dass wir unser Ich überall mit hinnehmen.

Aber kommen wir uns damit auf die Spur? Kommen wir uns näher? Sind wir am Ende nur Geschäftsführer unseres Selbst? Schaltet uns die globale Kultur gleich? Je schneller sich die Welt wandelt, desto größer das Verlangen nach Selbstgewissheit. Reality-TV, Doku-Soaps, Partnerbörsen und Webportale stellen uns tagtäglich Angebote für die Identitätsbildung bereit. Selfdesign oder Sein - das ist die Frage.

Das Feature bietet Einblicke in die komplexe Liaison mit unserem Ich. Identität, das zeigen Künstler, sind viele miteinander konkurrierende und kooperierende, verbündete und sich bekämpfende Identitäten. Die Literatur buchstabiert Ich-Wechsel durch, das Theater lebt von der Ich-Vielzahl und durchleuchtet sie auf der Bühne. Die Psychoanalyse teilt das Ich durch drei, in Es, Ich und Über-Ich und Hirnforscher stellen das Ich auf den Kopf: Denken und Gefühle, alles Moleküle. Nicht das Ich entscheidet, sondern das limbische System. Ein Hörbild entlang des individuellen roten Fadens, der durch unser Gehirn läuft und so schwer zu fassen ist.

Sehr schade ist allerdings, dass diese Sendung nicht zum Download angeboten wird, auch wenn direkt im Anschluss versprochen wurde, dass man dieses Programm als Podcast abonnieren kann ("finanziert von unseren Steuergeldern"). Dafür hat man mir auf mein Anschreiben das Transkript zur Sendung geschickt. Danke dafür, das ist schon viel Wert.

Ich bin hier. Where are you?

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